Unsere Redaktion erreichte der Leserbrief von Jürgen Gruner aus Siegen.
Hat Paul Lincke das verdient?
Die aktuelle Diskussion um Paul Lincke und seine Rolle während der NS-Zeit wirft viele Fragen auf. Das dazu verfasste Gutachten stellt ihn als Profiteur und Propagandisten des Regimes dar, doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Einschätzung auf einseitigen Argumenten basiert.
Das Gutachten arbeitet mit suggestiven Formulierungen, die eine bestimmte Wahrnehmung beim Leser hervorrufen sollen. So wird Lincke etwa vorgeworfen, “sich perfekt vor den kulturpolitischen Karren der Nationalsozialisten spannen zu lassen” – eine Aussage, die ihm eine aktive Beteiligung unterstellt, ohne Alternativen zu prüfen. Auch die Behauptung, er habe “dreist gelogen”, weil er eine Beziehung zu Hans Hinkel bestritt, ist problematisch. Nur weil Hinkel ihn in einem Brief freundschaftlich ansprach, ist das kein Beweis für eine enge Verbindung. Solche Briefe können ebenso gut aus Eigeninteresse oder aus reiner Förmlichkeit entstanden sein.
Zudem wird Lincke kritisiert, weil er keine jüdischen Leumundszeugen benennen konnte. Das Fehlen solcher Zeugnisse wird ihm als Belastung ausgelegt, anstatt zu hinterfragen, ob er möglicherweise keine Kontakte mehr hatte oder ob diese Menschen nach den Schrecken der NS-Zeit schlicht nicht für solche Zwecke zur Verfügung stehen wollten.
Ein weiteres Beispiel für die voreingenommene Argumentation ist die Behandlung seiner Steuerangelegenheiten. Dass Lincke dem Finanzamt gegenüber kritisch eingestellt war, wird als moralisch fragwürdig dargestellt – dabei ist es vollkommen üblich, die eigene Steuerlast zu optimieren. Gerade als viel geehrter Künstler dürfte er oft eingeladen worden sein, ohne dafür Quittungen zu erhalten. Dass ihm dennoch eine vermeintliche Bevorzugung vorgeworfen wird, zeigt, wie das Gutachten eine vorgefertigte Meinung bestätigt, statt ergebnisoffen zu analysieren.
Noch bedenklicher ist, dass die Unschuldsvermutung nicht gewahrt wird. Statt objektiv zu prüfen, ob Lincke tatsächlich eine problematische Rolle im NS-Staat hatte, wird die Beweislast umgedreht: Er muss nachträglich entlastende Beweise liefern – ein unmögliches Unterfangen.
Eine faire historische Einordnung muss differenziert bleiben. Es ist wichtig, kritisch zu hinterfragen, ob ein Mensch wie Lincke bewusst das NS-Regime unterstützte oder einfach in schwierigen Zeiten als Künstler überleben wollte. Die Art und Weise, wie das Gutachten argumentiert, lässt leider wenig Raum für eine solche Differenzierung.
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